Die Verleihung des Chamisso-Preises konnte am 23. September 2022 zum zweiten Mal in den Räumen des Dresdner St. Benno Gymnasiums stattfinden. Zu Beginn der Veranstaltung wurden die Gäste der Preisverleihung deshalb durch den Stellvertretenden Leiter der Schule, Herrn Volker Milde, begrüßt
Aus der Begrüßung durch Volker Milde
»Eine Schule versucht immer die Vielfalt der Erfahrungen der Menschheit einzufangen, um so ein Weltbild an die heranwachsende Generation zu vermitteln. Eine beständige Diskussion unter Bildungspolitikern und Pädagogen ist dabei die angemessene Auswahl des Lehrstoffs, die Frage, welche Erfahrungen sind es wert, vermittelt zu werden. Die Fülle an Beispielen, Modellen oder Geschichten ist riesig und vergrößert sich permanent. Eine Auswahl von Bildungsinhalten führt somit zwangsläufig zu Bildungslücken. […] So haben wir durch die bedrückenden Entwicklungen im letzten halben Jahr erleben müssen, wie geradezu dürftig unser Wissen und unsere Erfahrungen mit der osteuropäischen Geschichte und Geographie sind.
Beim Lesen der Bücher von Katerina Poladjan habe ich gedacht, in diesem Bezug ähnelt die Arbeit einer Literaturpreisjury der eines Pädagogen. Man muss eine besondere Geschichte auswählen und eine gelungene Wahl öffnet neue Welten für den- oder diejenige, die mit dieser Geschichte konfrontiert wird. Und so kann die getroffene Wahl uns neue genussvolle Lesestunden verschaffen, verknüpft mit der Erkenntnis, dass unser Weltbild sehr erweiterungsbedürftig ist. «
Im Anschluss folgte die Festrede von Frau Richterin am Bundesverfassungsgericht Prof. Dr. Christine Langenfeld, die Dresden durch ihre eigene Familienbiografie und dem Anliegen des Chamisso-Preises durch ihr wissenschaftliches und persönliches Engagement besonders verbunden ist.
Aus der Festrede von Prof. Dr. Christine Langenfeld – Migration und Zugehörigkeit
»Deutschland ist ein Einwanderungsland und die deutsche Gesellschaft ist eine Einwanderungsgesellschaft. Der Chamisso-Preis, der seit 1985 vergeben wird, ist ein beredter Ausdruck davon. […] Und die Geschichte von Migration und Identität in der Einwanderungsgesellschaft wird weitergeschrieben werden. Mit weiteren Fluchtbewegungen wird in hohem Umfang zu rechnen sein. Die Ukraine ist das aktuellste und uns alle erschütternde Beispiel. Es ist unklar, ob und wann die Geflüchteten, die aus vielen Staaten in Deutschland Zuflucht gesucht haben, werden zurückkehren können. […] Also, die Verleihung des Chamisso-Preises gibt Anlass, über Migration und Zugehörigkeit zu sprechen, aus der rechtlichen Perspektive, aber auch darüber hinaus.
[…] Aber ich würde meine Profession, die Rechtswissenschaft, verfehlen, wenn ich nicht darauf hinweisen würde, dass Recht, insbesondere das Recht unserer Verfassung, das Grundgesetz, den Rahmen für all dies setzen würde und welcher Art dieser Rahmen ist. Und da ist eben entscheidend, dass das Grundgesetz einen demokratischen Rechtsstaat konstituiert, in dem Würde, Freiheit und Gleichheit die Grundlagen des Zusammenlebens bilden, und zwar für alle, für jene, die schon seit jeher hier leben und jene, die hierherkommen, aus welchen Gründen auch immer. «
Nach einer kurzen Pause spannte Herr Prof. (em.) Dr. Walter Schmitz als Vorsitzender des Vereins Bildung und Gesellschaft den Bogen vom Namensgeber des Preises zur diesjährigen Preisträgerin.
Aus der Rede von Prof. (em.) Dr. Walter Schmitz – Adelbert von Chamisso und Katerina Poladjan – zwei entfernte Verwandte
»Vom Namen Chamissos aufgerufen, dürfen wir uns erinnern an die Geschichte, die jedem und jeder von uns voraus liegt. Lebensformen, die uns heute selbstverständlich sind, formen sich damals aus, begegnet uns, wenn wir etwa der ›wundersamen‹ Mobilität des Peter Schlemihl nachdenken – und seinem tragischen Schicksal. […] Weltverkehr und Welthandel, die so glänzend funktionieren, spielen freilich in Schlemihls ›wundersamer Geschichte‹, die im Hafen Hamburgs beginnt, vor dem Hintergrund des Krieges, der Eroberung, der Ökonomisierung der Welt. Das ist die Signatur des nationalen Zeitalters. Und dieses Zeitalter ist eben ist nicht zu Ende; seine Hypotheken sind aktuell – und bleiben wiederum in Katerina Poladjans Schreiben nicht ausgespart.
Im Wohlstand und im guten Leben, das in der Bundesrepublik Deutschland für viele Jahre den Bürgerinnen und Bürger geschenkt waren, blieb der Rahmen der globalen Gewalt an den Rand gerückt. Doch schon nahebei, in den ›Bloodlands‹, vom Nordosten Europas bis weit nach Süden hin, ist das Morden nicht vergessen – in den baltischen Ländern, in Polen, in der Ukraine, in Armenien. Die Ruhe nach dem Zweiten Weltkrieg war trügerisch; dort werden die Geschichten von Krieg und Mord weitergegeben, bleiben gegenwärtig, […]. Und die Erinnerung weiß, dass diese Geschichte nicht vorbei ist – der Schock eines neuen Kapitels hat uns eingeholt; wenn wir ahnungslos waren, so hätten wir vielleicht der Geschichte und den Geschichten der Literatur mehr Aufmerksamkeit schenken sollen.«
Der Preisträgerin wandte sich schließlich die Lobrede von Frau Anne-Dore Krohn, Literaturredakteurin beim rbb, zu. Dass diese Katerina Poladjan nicht nur als Schriftstellerin, sondern auch persönlich schätzt, zeichnete ihren Vortrag besonders aus.
Aus der Laudatio auf Katerina Poladjan von Anne-Dore Krohn – Ein weites Spielfeld: Katerina Poladjan, Chamissos Wale und die Freiheit des Erzählens.
»In Katerina Poladjans Roman Zukunftsmusik begegnen wir einer Vergangenheit, die sich nicht entfaltet, verwirklicht oder bewährt hat. Einer Vergangenheit, die viele einst für die Zukunft hielten. Der Roman dagegen entfaltet sich unmittelbar, sobald man ihn zu lesen beginnt. […] Zukunftsmusik, Katerina Poladjans vierter Roman, ist eine große, kluge, wohlklingende Komposition. Und dazu ein durchdachtes Spiel. Dem Roman geht ein Motto voraus: „Igrajem“. Spielen wir. Und das tut sie: Die Personen sind ihre Spielfiguren, die Sprache ihr Würfel. Der ganze Roman ein Spielfeld. Mit unendlichen Möglichkeiten, mit unendlicher Freiheit.«
Nach der Übergabe der Preisurkunde schloss die Preisverleihung mit den Dankesworten der Preisträgerin.
Aus der Dankrede von Katerina Poladjan zur Verleihung des Chamisso-Preises
»Ich habe das große Glück, in einer Sprache schreiben zu dürfen, die eine Fremdsprache für mich war. Und diese fremde Sprache, die ich sprechen darf, in der ich schreiben darf, ist nie ganz meine, auch wenn ich sie heute besser beherrsche als meine Muttersprache. Die Sprache gehört mir nicht, sie ist geborgt, und da sie mir nicht gehört, kann ich keine Besitzansprüche erheben. So bleibt diese geheimnisvolle Fremdheit zwischen uns. Wie in einer Liebesbeziehung.«